Nachruf auf Jonathan Ott

Nachruf auf Jonathan Ott

Würdigung seines Lebens und Wirkens

Text: Claudia Müller-Ebeling

Am 5. Juli 2025 verließ Jonathan Ott den psychonautischen Orbit, den der US-amerikanische Chemiker, Ethnobotaniker und Autor lebenslang akribisch erforschte und geistreich erhellte. Er starb einen Monat nach seinem 76. Geburtstag im ländlich abgelegenen Domizil seiner mexikanischen Wahlheimat Xalapa, Veracruz. Ungeklärt ist, weshalb seine robuste Konstitution versagte, die er erforderlichen Fußmärschen verdanke, wie Ott bei letzten Begegnungen 2023 betonte; im Frühjahr in Basel und im Dezember in Südchile, beim ersten psychonautischen Symposium Utopia y Ebriedad in Conguillío.

Jonathan Ott und Claudia Müller-Ebeling, Basel April 2023. Foto: privat

Der einflussreiche Psychonaut (geboren am 2. Juni 1949 in Hartford, Connecticut) überwand familiäre, politische, akademische Grenzen und meist beschränkte Bewusstseinssphären. Obgleich sein scharfer Intellekt provozierte, begegnete Ott unvermeidlichen Kollisionen bewundernswert beherrscht und ohne Panik. Seiner Passion widmete er sich undogmatisch, unkonventionell, unerbittlich: Entheogenen – der Herkunft, Verbreitung, Wirkung und chemischen Zusammensetzung psychoaktiver Pflanzen und Pilze; weshalb und wie sie wirken; wo sie vorkommen und wie genau sie wofür genutzt werden. Ihrem kulturhistorisch entheogenen Gebrauch galt sein unbestechliches Interesse. Und einer möglichst präzisen Sprache! Poetisch grenzerweiternde Publikationen von Jonathan Ott brachten manche ans Limit. So sandte ein überforderter Enthusiast dem Autor sein (leider ‘unverständlich’ gebliebenes) Pharmacotheon-Exemplar zurück, damit es ‘gescheitere Leser’ erfreuen könne. Das als umfassende “Bibel der Entheogene” gerühmte Meisterwerk Pharmacotheon etablierte Ott 1993 – mit zuvor weit verstreuten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Chemie, Pharmakologie, Anthropologie und Botanik – laut Josep “Txema” Fericgla (1955 in Barcelona geboren, Anthropologe, Autor, lebenslanger Freund, Kollege) “endgültig als einen der wichtigsten zeitgenössischen Forscher und Autoren – auf dem Gebiet der Ethnopharmakognosie, wie er es selbst bezeichnet hat. Darüber hinaus ist auch sein wertvoller literarischer Stil von höchster Qualität zu erwähnen.”

Jonathan war ein maniac. Was im Englischen durchaus bewundernd jenen gilt, die besessen eigenen Gedanken, Interessen, Ideen folgen, trifft in vielerlei Hinsicht auf ihn zu. Seine Lebensthemen beleuchten, wovon er besessen war. Als Herzensbruder “mit der gleichen Passion, der gleichen Denkweise, denselben Interessensgebieten” würdigte Christian Rätsch (1957-2022) seinen Ko-Autor Jonathan Ott im Vorwort ihres 2003 im Schweizer AT-Verlag erschienenen Buches Coca und Kokain. Auf den “artverwandten Bruder in Mexiko”, dem er im Herbst 1994 bei einer Konferenz in Lérida, Spanien, erstmals begegnete, hatte Christian der weltberühmte Schweizer Chemiker Dr. Dr. mult. h.c. Albert Hofmann (1906-2008) aufmerksam gemacht. Der ‘LSD-Vater’, der beiden ein maßgeblicher Mentor war. Sein Drang, die vornehmlich deutschsprachige frühe Drogenforschung zu erfassen, hatte Ott beflügelt, Deutsch zu lernen. Gut genug für seine englische Übersetzung LSD – My Problem Child (1980 bei McGraw-Hill) von Hofmanns Buch LSD – mein Sorgenkind (1979 bei Klett-Cotta). Seine bibliophile, linguistische und ethnobotanische Begeisterung führte Ott auch auf die Spur des bedeutenden Pioniers der mexikanischen Ethnobotanik, Blas Pablo Reko (1876-1953), dem Identifizierungen der Götterpflanze ‘ololiuqui’ (Turbina corymbosa) und des heiligen Pilzes ‘teonanacatl’ zu verdanken sind. Mit der Übersetzung On Aztec Botanical Names (1996) holte Jonathan dessen raren Klassiker De los Nombres Botanicos Aztecas’ (1919) ans Licht. Fließende Beherrschung des castellano (der in Spanien dominierenden Sprache) inspirierte den jahrzehntelang in Mexiko Heimischen sogar zu einem Drama in altertümlichen Versen.

Dass Jonathan Ott dem ethnobotanischen Kreis um Carl A.P. Ruck, Richard Evans Schultes, Gordon Wasson angehörte, der 1979 den Terminus entheogen prägte, ist sattsam bekannt – nicht aber dessen präzise Bedeutung. Denn entheogen ist kein Synonym für psychoaktiv. Der aus drei griechischen Worten abgeleitete Begriff en-theo-gen (“innen” – “göttlich” – “generieren”) definiert, was rituell genutzte psychoaktive Substanzen im spirituellen Kontext bewirken: “das Göttliche im Inneren hervorrufen“. Es ist der kulturelle Gebrauch, der Entheogene von Psychedelika unterscheidet! Laut Jonathan Ott: “Entheogens are psychoactive substances used in spiritual and religious contexts to induce altered states of consciousness.” – Entheogene sind psychoaktive Substanzen, die im spirituellen Kontext genutzt werden, um das Bewusstsein zu verändern.

Wer Jonathan kannte, weiß, wie sehr ihn verständnisloser Sprachgebrauch frustrierte. Auch linguistische Präzision charakterisierte ihn als maniac. In seinem wohl letzten öffentlichen Vortrag 2023 in Südchile brillierte Ott auf Spanisch mit einer terminologisch historischen Übersicht zur adäquaten Beschreibung der Wirkung von bewusstseinsverändernden Substanzen. Der von profunder Kritik gewürzten minutenschnellen Abfolge mißverständlicher Begriffe (von halluzinogen über psychomimetisch bis entheogen) war die simultane Übersetzung ins Englische nicht gewachsen. (Weshalb ich trotz rudimentärer Spanischkenntnisse den Ausführungen meines langjährigen Freundes und Kollegen lieber im betörenden O-Ton lauschte.)

Jonathan war ein Grenzgänger, Einzelgänger, Unikum, Unikat – eine einzigartige Persönlichkeit (wie sein hanseatisches Pendant Christian Rätsch). Er verkörperte Widersprüche, der sich zwischen Stühlen positionierte und Verschwiegenes zwischen den Zeilen erkundete. Das Anekdoten-Repertoire kennt ihn im Schnee, mit nackten Füßen in Sandalen. Auf kühlem Betonboden tropischer Palenque-Hitze trotzend und als “human heating” seines eiskalten Refugium im sonnigen Mexiko. Als charismatischen Rhetoriker, der Auditorien sogar mit der Krümmung des Raums fesseln konnte und nach nächtlichen Gelagen klar konzentriert multinationale Konzerne kritisierte, obgleich er sich von Schokolade + Coca Cola ernährte. Der Cannabis sowie LSD mied, trotz zahlreicher Beiträge für das in Barcelona verlegte Hanf-Magazin Cañamo und seiner Verehrung für den LSD-Entdecker Albert Hofmann. Der weltweit reisende Einöd-Eremit war meist schweigsam allein, leise forschend. Und legendär als ‘radio Ott’ im Freundeskreis. An Jonathans raps voller Zunder im Rahmen ihrer Chile-Reise im Sommer 1996 erinnern Donna und Manolo Torres (denen ich präzise Nachruf-Infos schulde): “Unterwegs von San Pedro de Atacama in Chile zum Land der Wichi-Schamanen in Nordargentinien (wo wir profunde Informationen zum Gebrauch von Anadenanthera-Samen mit Christian Rätschs ethnographischer Expertise erhofften) hielt uns Jonathan während der ermüdenden achtstündigen Fahrt wach, mit fortwährend unterhaltsamen Informationen zum Gebrauch und zur Geschichte von Psychedelika.” Mit Sarkasmus und Witz füllte Jonathan seine berüchtigten crackpot-files (im ‘Dummkopf-Ordner’, wo auch sein falsches Geburtsdatum 6. Januar als Internet-Blödsinn gelandet wäre).

Wegweisend inspirierende Kontakte verdankte Jonathan Ott der Gunst der Stunde. Während seines Studiums der organischen Naturstoff-Chemie am Evergreen State College von Olympia, in Washington State, besuchte er 1973 eine Vorlesung des berühmten Ethnobotanikers Richard Evans Schultes (1915-2001), der den interessierten Studenten einlud, seine Fachbibliothek in Harvard zu konsultieren. Die Einladung, der Jonathan im Sommer 1974 folgte, bescherte ihm ein überraschendes Telefonat mit dem New Yorker Bankier Gordon Wasson (1898-1986), Begründer der Ethnomykologie. “Hier ist ein junger Mann, den Sie kennen lernen sollten”, hörte er Schultes sagen, der ihm den Hörer zum Telefonat mit Wasson weiterreichte.

Maßgebliche Kontakte, die zahlreiche Konferenzen initiierten, die Ott fortan mit Partnern realisierte. Schon im Frühjahr 1976 die First International Conference on Hallucinogenic Mushrooms im Millersylvania State Park, Washington. Auf dem Podium berühmte Koryphäen wie Gordon Wasson und der mexikanische Anthropologe Gastón Guzmán Huerta (1932-2016), als Mykologe eine Autorität für die Gattung Psilocybe.[1] Otts enthusiastisches Networking gipfelte in jährlichen Shamanic-Plant-Seminaren im luxuriösen Chan-Kah-Resort, nahe der Maya-Pyramiden von Palenque, in Chiapas, Mexiko, die er 1994 bis 2001 mit Ken Symington, Rob Montgomery und Terence McKenna realisierte (die 2017 und 2000 starben). Zum Palenque-Referenten-Kreis zählten u.a. psychonautische Pioniere wie Ralph Metzner und Sasha Shulgin, Ethnologin Stacy Schaefer und Altamerikanist Christian Rätsch, Luis Eduardo Luna, Manuel Torres und Kunsthistoriker-Kollegin Claudia Müller-Ebeling, die Mykologen Paul Stamets (USA), Jochen Gartz (D) sowie der italienische Iboga-Experte Giorgio Samorini. Meiner ersten Begegnung mit Jonathan im Palace of Fine Arts Theatre, San Francisco, wo er im Oktober 1996 die ethnobotanische Konferenz Plants, Shamanism and Ecstatic States realisierte, verdankte ich die biennale Fortsetzung der interdisziplinären Konferenzreihe 1998 in Amsterdam mit holländischen Psychoactivity-Kollegen.

Als Chemiker untersuchte Ott Harmalin- und Dimethyltryptamin-haltige Ayahuasca-Analoge (1995 publiziert). Forschend erkundete er die spezifische Wirkung von Pflanzen, die wo und weshalb in diversen Mischungen geraucht und geschnupft werden. Akribisch experimentierend und publizierend fand er heraus, dass Raucher erstaunlicherweise die Wirkung von reinem Nikotin wenig interessiert und Kokain-User kulturelle Hintergründe der heiligen Mama Coca kalt lassen.

Jonathan Ott, der brillante Freigeist, eloquente Referent, geistreiche Autor einflussreicher Bücher, zahlreicher Artikel maßgeblicher Journale (High Times, Curare, Integration, Lucys Rausch) und Herausgeber (mit Giorgio Samorini) von Eleusis, Journal of Psychoactive Plants and Compounds, inspirierte Freunde, Kolleginnen, WeggefährtInnen und psychonautisch Interessierte.

Jonathans familiärer Hintergrund blieb selbst dem intimen Freundeskreis verborgen – wie die noch immer ungeklärte Ursache seines Todes. Laut kärglicher biografischer Hinweise war sein Vater Boeing-Ingenieur, weshalb die neunköpfige Familie Ott zur gut situierten Mittelklasse zählte. Der jüngste Bruder verstarb früh. Der Sohn seines älteren Bruders und Sohn und Tochter seines jüngeren machten ihn zum Onkel. Die drei Schwestern blieben kinderlos, wie Jonathan, nach zwei geschiedenen Ehen.

Der Nachwelt hinterlässt Jonathan Ott weltweit gewürdigte Publikationen, die seinen wachen Geist bezeugen. Und die Bibliothek des Bibliophilen, die den mutwillig entfachten Brandanschlag im März 2010 überlebte.

  1. Detaillierte Hinweise zur ersten von Ott u.a. organisierten Konferenz siehe: Journal of Psychedelic Drugs, Editors Note Vol. 11 (1-2) January-June 1979. Guzmán und Ott lud ich (auch dank Christian Rätsch) im Herbst 2001 nach Nepal ein, zum zweiten Psychoactivity Event, organisiert mit meinen Amsterdamer Kollegen Hans van den Hurk und Arno Adelaars.